Alltagssituation. Die Kalligraphie eines Zen-Meisters

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Alltagssituation. Da weht ein Wind. Und nichts weiter. Der gegenwärtige Augenblick ist fast immer banal. Der Wind weht jetzt. Und irgendwann wird er nicht mehr wehen.

Das wäre kein Wort eines Meisters, wenn er nicht Erleuchtung mitdenkt.

alltagssituation

 

Wenn ich vor dieser Kalligraphie sitze, meine ich die Präsenz des Meisters zu spüren. Wunderbar harmonisch und dynamisch fließen Zeichen, die mit weichem Pinsel in anscheinend spielerischer Leichtigkeit mit sattem schwarzem Strich aufs Papier gebracht sind.

Das muss von einem großen Meister stammen.

Text:

duften, gut riechen

Wind, Brise, Luftzug

Ein duftender Wind. Da könnten sich wohlriechende Blüten geöffnet haben. Vielleicht weht der Wind durch Bäume und bringt den Duft junger Blätter mit sich. Das klingt nach Mai, Frühling und Frühsommer.

selbst, automatisch, eigenständig

Der Wind kommt von selbst. Da hat niemand ein künstliches Gebläse aufgestellt. Der Wind bewegt sich ganz aus eigener Kraft und wie es ihm beliebt. Jetzt weht er gerade. Und vielleicht etwas später nicht mehr. Oder er kommt dann aus dem Norden und ist kalt und bringt auch keinen gut riechenden Duft mit.

Süden, südlich

Dass der Wind von Süden kommt, passt zu einem wohlriechenden Frühlingswind.

kommen

Es geht um einen angenehmen Wind.

Weshalb konfrontiert uns ein Meister mit diesem Text?

Das klingt ziemlich banal. Der gegenwärtige Augenblick ist fast immer banal. Es muss nicht immer aufregend sein. Haben ich so große Angst vor Langeweile? Kann ich mich nicht mit mir selbst konfrontieren und dem jetzigen Augenblick?

Jetzt weht gerade ein Wind. Mehr ist gerade nicht. Reicht das nicht?

Ist das nicht öde? Sind diese Mönche nur ein Stück totes Holz?

Nein. Weil sie mitbekommen, was jetzt ist, sind gerade sie vielleicht besonders lebendig.

Vielleicht freut sich der Meister und genießt diesen Augenblick. Nicht in dem Sinne, dass er den Augenblick festhalten will. Er genießt ihn und wenn er wieder vorbei ist, dann ist etwas anderes. Wenn dann ein kalter Wind kommt, dann kommt eben ein kalter Wind.

Darüber kann ich mich ärgern. Dann habe ich Ärger. An dem Wind wird es nichts ändern. Und auch nichts daran, dass ich dann friere. Dann ziehe ich eben einen Mantel an.

Der Wind weht jetzt. Und irgendwann wird er nicht mehr wehen. Und der Wohlgeruch wird nicht mehr sein. Die Blüten des Frühjahrs sind bald verblüht und die frischen Blätter werden dunkel werden und irgendwann abfallen. Nichts wird so bleiben wie es ist. Vergänglichkeit.

Das wäre kein Wort eines Meisters, wenn er nicht Erleuchtung mitdenkt.

Wenn ein duftender Wind aus dem Süden kommt, dann stelle ich mir gleich etwas vor, das sich bewegt. Ich packe alles, was mir begegnet in Kategorien von „dies“ und „das“. Erleuchtung lässt sich nicht durch Begriffe wie „sich bewegen“ und „sich nicht bewegen“ fassen. Erleuchtung ist völlig jenseits dessen, was wir kennen. Sie ist jenseits der Dualität von „dies“ und „das“. Alle Unterscheidungen sind in dem Zustand aufgehoben.

Was trennt mich von diesem Zustand? All das überflüssige Zeug, das sich in mir angesammelt hat.

Das wäre ein Zustand, in dem all das, was meinen Geist gewöhnlich fesselt, für den Augenblick völlig verschwunden ist. Da weht ein Wind. Und nichts weiter.

Herkunft des Textes

Der Text ist ein Zitat. Der Meister zitiert nur den halben Text. Er geht weiter mit: der Pavillon des Palastes ist jetzt frisch und kühl.

Den Text haben der Kaiser Wenzong und der Politiker und Poet Liu Gong aus der Chinesischen Tang-Dynastie im 9. Jahrhundert verfasst. Der Kaiser beschwert sich über die Hitze des Sommers. Darauf antwortete Liu Gong: Eine duftende Brise weht aus dem Süden und im Palast tritt sogar eine leichte Kühle auf.

Die banale Alltagssituation eines verwöhnten Herrschers.

Der Meister

Kobayashi Taigen wurde 1938 in Shenyang im Nordosten Chinas geboren. 1975 wurde er Nachfolger von Abt Miyanishi Genshō im Ōbai-in, dem Untertempel des berühmten Daitoku-ji der Rinzai Konfession in Kyōto.

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