Guanyin steht für Mitgefühl universal – eine Gestalt, wie ich sie mir tröstlicher kaum vorstellen kann. Als Quelle bedingungsloser Liebe wendet sie sich uns zu, zärtlich, liebevoll und zugänglich, tröstet wie eine Mutter und reagiert mit Verständnis und Unterstützung auf das Leid der Wesen.

Vor mir steht eine recht große Holzfigur aus dem China um 1700. Diese Statue zeigt eine junge Frau in einem weiten fließenden Gewand in einer entspannten Pose. Eine leichte Drehung trägt zu einer weichen und sanften Darstellung bei. Sie schaut anmutig und wohlwollend lächelnd in meine Richtung.
Diese Figur meint einen Bodhisattva – und nicht irgendeinen, sondern den, der in Indien Avalokiteshvara hieß und in Tibet Chen Rezi heißt. Das ist der Bodhisattva der Barmherzigkeit, die Verkörperung des Mitgefühls aller Buddhas und Bodhisattvas, die irdische Manifestation des Buddha Amitabha, des Buddha des grenzenlosen Lichts. Er bewacht die Welt in der Zeit zwischen dem Abschied des historischen Buddha Gautama und dem Erscheinen des zukünftigen Buddha Maitreya.
Ihr chinesischer Name folgt einer exakten Übersetzung der Sanskrit-Bezeichnung Avalokitasvara:
Der Name Guānyīn (觀音) bezeichnet Jemanden, der die Welt da unten sieht und das Weinen und Leiden aller fühlenden Wesen wahrnimmt, die Hilfe brauchen.
Eigenschaften
Guānyīn ist immer noch Avalokiteshvara – in einer anderen Form. Offensichtlich sieht diese Figur ganz anders aus als in Indien und Tibet und hat ihr Geschlecht gewechselt. Das sollte nicht verwundern, wenn ich weiß, dass diese Wesenheit jede nur erdenkliche Form annehmen kann, um den Wesen bestmöglich zu helfen – unabhängig von Alter, Geschlecht oder sozialer Klasse.
Diese andere Form bildet eine perfekte Projektionsfläche. Guānyīn wirkt nicht wie eine losgelöste, göttliche Autorität und sie besitzt all die Eigenschaften, wonach wir uns sehnen.
Sie steht für Mitgefühl universal. Sie verkörpert Barmherzigkeit, Selbstlosigkeit, perfekter Güte, Einfühlungsvermögen, Fürsorge, Schutz, Weisheit, Heilung und Reinheit bei äußerster Geduld.
Als Quelle bedingungsloser Liebe wendet sie sich uns zu, zärtlich, liebevoll und zugänglich, tröstet wie eine Mutter und reagiert mit Verständnis und Unterstützung auf das Leid der Wesen.
Sie ist allsehend und allhörend. Sie hört und erhört – wie Avalokiteshvara – die Schreie und Bitten aller fühlenden Wesen, um sie von ihren Leiden zu erlösen. Sie erfüllt Wünsche und vollbringt gelegentlich Wunder.

Viele Menschen haben gerade diese Figur – auch wenn sie keine Buddhisten sind – für sich vereinnahmt und ihre Geschichten darum gewebt. Und jede Geschichte fügt ihr eine weitere Rolle und weitere Attribute zu.
Damit umfasst sie noch viel mehr, als mit der Figur des Avalokiteshvara in Indien und Tibet verbunden wird.
Sie wurde zur universellen menschlich mütterlichen Fürsprecherin und Vermittlerin zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Bereich.
Guānyīn unterstützt die Unglücklichen, Kranken, Schwachen, Bedürftigen, Behinderten und Armen sowie überhaupt alle, die in Not sind.
Als Patronin der Mütter beschützt sie Frauen und Kinder und tröstet bei den Schmerzen der Geburt.
Sie agiert als Göttin des Meeres, Patronin der Seeleute, Beschützerin der Fischer und generell aller Menschen, die auf dem Meer unterwegs sind.
Sie gilt als Fruchtbarkeits- und Landwirtschaftsgöttin.
Als Glücksgöttin rufen sie vor allem Geschäftsleute und Händler an.
Reisende, insbesondere Autofahrer und Flugreisende, vertrauen auf sie.
Sie wirkt als kraftvolle spirituelle Lehrerin und wird für eine gute Wiedergeburt angerufen. Durch ihre Gnade können sogar eigentlich hoffnungslose Fälle Erleuchtung erlangen. Sie geleitet die, die ihr vertrauen, nach dem Tod in das reine Land Sukhavati, in das Paradies von Amitabha.
Guānyīn steht für tief gefühlte Freude, inneren Frieden und Gleichmut in einem meditativen Zustand, in dem ich mit mir selbst und anderen in Frieden verweile.
Bei dieser Figur deutet die Schriftrolle, die man im linken Ärmel erkennt, darauf hin, dass sie buddhistisch gemeint ist, als Hinweis auf die transformative Kraft der Worte und Lehren Buddhas und ihre Rolle als spirituelle Lehrerin.
Gestaltlos
Lehrt nicht der Buddhismus, letztlich sei alles leer und damit ohne reale Substanz, wie ein Traum? Und sind nicht jenseitige Wesen, seien es Götter, Geister, Engel oder Dämonen, ohnehin gestaltlos? Niemand kann sie sich wirklich vorstellen. Sie gehören einer anderen Dimension an.
Gerade deshalb hilft es, einen abstrakten Begriff in ein Symbol und in eine Form zu packen. Wie soll ich mir sonst das umfassendste und absolute Mitgefühl konkret vorstellen?
Eine eher rational dominierte Vorstellung hat in Indien und Tibet ein menschenähnliches Symbol geschaffen, kraftvoll männlich, mit unendlich vielen Händen, damit dieses Wesen überall gleichzeitig helfen kann, wo es Hilfe bedarf. Und es hat rundherum Köpfe, die unablässig schauen, ob es irgendwo ein Wesen gibt, das jetzt gerade Hilfe braucht. Das ist ein Bild, das einleuchtet und das ich mir gut vorstellen kann.
Auch diese chinesische Figur ist nur ein Bild und eine Vorstellung. Doch. Wenn ich in diese Glasaugen schaue, dann öffnet sich mein Herz. Diese Gestalt läuft über vor lauter Mitgefühl – eine Gestalt, wie ich sie mir tröstlicher kaum vorstellen kann.
Ich vergesse, dass da letztlich nur ein Stück Holz vor mir steht. Ich kann mich fallen lassen, mein Leid tritt in den Hintergrund und ich bin ganz zuversichtlich, dass letztlich alles gut wird und schließlich tauche ich in ein Land ein, in dem es kein Leid gibt.
Diesem Wesen kann ich voll vertrauen. Guānyīn ist immer nur gerade ein Gebet weit weg. Da kann ich glauben, dass sie kommt, wenn ich nur ihren Namen rufe. Und mein vollständiges Vertrauen und mein Glauben kann mich auch hier gesund machen.
Als ich das erste Mal konkret vor ihr stehe und sie mich aus ihren Glasaugen anschaut, da bin ich angerührt. Dieses Stück tote Materie lebt wirklich. Anders kann ich es nicht beschreiben.
