Wie geht es weiter nach der Erleuchtung? Die 84 Mahasiddhas zeigen das exemplarisch. Sie haben die ganzen Konzepte durchschaut und überwunden. Nun steht eine gravierender Schritt an.
Es gibt in mehreren Richtungen des tibetischen Buddhismus Listen von 84 großen erleuchteten Meistern aus Indien und Tibet. Mit einem Rollbild von Vajradhara sind mir in der Randbemalung auch winzige Bildchen in die Hände gefallen, die ich mir bis dahin noch gar nicht genauer angeschaut hatte. Das sind Miniaturbilder dieser Meister oder Mahasiddhas, die ihre besonderen Fähigkeiten dem Urbuddha Vajradhara verdanken.
Diese Mahasiddhas sind so etwas wie ein Muster.
Sie zeigen exemplarisch, wie das Leben nach der Erleuchtung aussehen kann. Da ist alles dabei. Die sind voll divers. Da gibt es grüne, rosa, rote, braune, gelbe, blaue und fast weiße Menschen, Männer und ein paar Frauen, edel gekleidete und ganz oder fast nackte. Da sind Menschen der Oberschicht, Handwerker, Händler, Künstler, Mönche, Einsiedler, Yogis, Vagabunden und auch eine Kurtisane.
Es macht Spaß, sich diese wunderbaren Bildchen anzusehen. Da wird auch das Unkonventionelle und Verrückte gezeigt. Die Geschichten dahinter können einen zum Schmunzeln bringen. Die Mahasiddhas tun, was sie wollen. Und sie sind, wie sie sind. Besonders gefällt mir die Geschichte von Virupa, der seine Kneipenschulden nicht begleichen konnte. Er versprach, die Zeche zum Sonnenuntergang zu bezahlen. Und weil er kein Geld hatte, hat er eben den Lauf der Sonne durch seine erhobene Hand angehalten.
Was macht man so nach der Erleuchtung?
Es muss ja irgendwie weiter gehen. Auch der Buddha konnte nicht ewig unter dem Baum sitzen bleiben. Selbst er musste irgendwann mal essen, trinken und schlafen. Da gibt es den Spruch von Jack Kornfield: Nach der Erleuchtung Wäsche waschen und Kartoffeln schälen.
Die Erleuchtung ist sicher eines der einschneidensten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann. Bei den Heiligen auf diesen Bildchen wird gezeigt, wie das Leben nach der Erleuchtung aussehen kann. Da steht eine gravierender Schritt an.
Sie haben alle die Natur der Wirklichkeit erkannt – die Realität frei von Dualität und jenseits des Schleiers aus Illusionen und Konventionen. Sie haben die ganzen Konzepte durchschaut und überwunden. Jetzt müssen sie sich entscheiden. Einige habe ihre bisherige Rolle trotzdem weiter ausgefüllt und fortgeführt. Andere sind ausgestiegen.
Wie auch immer sie sich entschieden haben – sie stehen ganz praktisch, engagiert und kreativ mitten im Leben – jenseits der gedanklichen Schranken von hoch und niedrig, gesellschaftlicher Vorstellungen, Rechthaberei und Abgehobenheit.
Viele scheren sich einen Dreck um das, was man tun und lassen muss. Sie werden Vagabunden, Einsiedler und fast so etwas wie spirituelle Outlaws und praktizieren in Höhlen, Wäldern und auf Verbrennungsstätten. Manches sieht ziemlich verrückt aus. Es gibt unter ihnen Menschen, die Alkohol trinken und solche, die in wilder Ehe leben mit ziemlich fragwürdigen Partnern. In dieser Männergesellschaft gibt auch einige wenige Frauen. Auch eine Kurtisane ist dabei.
Im Buddhismus ist aus dem Umfeld der Mahasiddhas eine starke Gegenbewegung zu den Vorstellungen des ursprünglichen Buddhismus entstanden.
Einige haben tief nachgedacht und das buddhistische Gedankengebäude stark erweitert zum großen Fahrzeug. Sie erkannten, dass die klösterliche Doktrin so nicht stimmen kann. Sie sahen, dass auch Frauen Erleuchtung erlangt hatten, sogar solche, die die Gesellschaft ausgestoßen hatte. Jeder Mensch kann Erleuchtung erlangen – und das sogar in diesem einen Leben. Dazu ist kein klösterliches Leben notwendig und auch kein Bestreben über mehrere Leben hinweg.
Die zentrale Lehre des Buddhismus, dass alles leer ist, dass also alle Phänomene traumgleich sind und nichts eine innewohnende Existenz oder feste Substanz besitzt, ist weiter hinterfragt worden. Diese Debatte über den letztendlichen Charakter der Realität wird bis heute fortgeführt. Gibt es buchstäblich nichts anderes als Geist – wie die Chittamatrin-Schule behauptet oder sind die Dinge zwar traumgleich – aber sie existieren trotzdem? Ihre Existenz lässt sich doch schlecht leugnen. Das meint die Madhyamaka-Richtung.
Einige dieser ganz großen erleuchteten Meister haben Methoden entwickelt, die es erlauben, diesen höchsten Zustand nachvollziehbar zu beschreiben und nach einem langen Training auf einen Schüler zu übertragen. Das ist die höchste Stufe der Meditation, die Dzogchen oder Mahamudra heißt. Das ist der Zenit, die Stufe, nach der nichts mehr kommt.
Die Konvention lehrte Entsagung, um die Gifte der Leidenschaften aufzugeben und abzutöten, die als die Fesseln angesehen werden, die den Geist an die Materie und Natur binden. Einige aus dem Kreis der Mahasiddhas haben das exakte Gegenteil praktiziert. Da ist nichts mehr von heilig. Ganz bewusst und in ritueller Form wurde so ziemlich alles übertreten, was in der indischen Gesellschaft als Tabu galt: Der Genuss von Alkohol, Fleisch, Fisch und bestimmtem Getreide, die Beziehung zu gemiedenen Bevölkerungsteilen und sogar Sex – eines der größten Tabus und eines der stärksten Mittel der Transformation.
Es geht nicht um die Lust, die Bürger zu provozieren – oder vielleicht auch das – sondern darum, alle auch inneren Barrieren zu durchbrechen und höchste Zustände zu erreichen. Sie streifen die Fesseln, die den Geist binden, ab. Die Leidenschaften werden ganz bewusst als ein Mittel aufgeputscht und bis zum Extrem kultiviert, um ihre Energie durch den alchemistischen Vorgang der Sadhana in Weisheitserkenntnis und erleuchtetes Gewahrseins umzuwandeln. Deshalb zeigen etliche der Bildchen Menschen in sexueller Vereinigung.
Begriff Mahasiddha
Der Sanskrit-Begriff „Mahasiddha“ bezeichnet einen großen buddhistischen oder hinduistischen Verwirklichten. Dabei bedeutet „maha“ „groß“ und „siddhi“ „übernatürliche Fähigkeiten“. Damit ist ein „Siddha“ jemand der „Siddhis“ praktiziert. Mahasiddha sind Heilige, die Erleuchtung erlangt haben und denen diese besonderen Kräfte zugefallen sind. Die hier zugrunde liegende Liste und Bildchen entstammen der Kagyü-Konfession.
Es gibt hier eine ganze Webseite, die sich nur den 84 Mahsiddhas widmet
https://www.raumfuermeditation.de/uebernatuerliche-faehigkeit/
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https://www.raumfuermeditation.de/meditation-tipps/
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Echt ein interessanter Text,
danke dafür.